Der bedeutende Einfluss frühkindlicher Reflexe auf das kindliche Gehirn
Als Sportwissenschaftlerin mit jahrelangem Schwerpunkt im Kinder- & Jugendbereich habe ich über Jahre immer wieder Kinder beobachten können, die sich "schwerer" taten, als andere. Therapien, die angesetzt wurden und kaum Ergebnisse brachten - Diagnosen, die nicht schlüssig wirkten und jede Menge Frustration seitens Eltern gehörten zu meinem Alltag. Eher durch Zufall kam ich auf das Thema "persistierende frühkindliche Reflexe" und Reflexintegration.
Mit dem Wissen, dass frühkindliche Reflexe das Fundament der Entwicklung in den ersten Lebensjahren bilden, wurden viele Probleme deutlich klarer.
Die immer gleichbleibende Bewegungen, die vom Hirnstamm ausgelöst werden, sollten nach ihrer Waltezeit integriert sein. Sie sind für die Reifung des Babys im Mutterlaib, den Geburtsprozess, sowie die Weiterentwicklung des "hilflosen" Babys zu einem kompetenten Kind verantwortlich. Sind sie nicht ausreichend integriert, können die von mir beobachteten Problembereiche auftreten.
In der Praxis zeigt sich noch jede Menge Aufklärungsbedarf. Viele Eltern wissen zu wenig über die kindliche Entwicklung, ja sogar Kinderärzte blicken auf veraltete Lehrmeinungen hinsichtlich der Bewegungsentwicklung zurück.
Kindliche Entwicklung
Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.
Der Wachstums- & Entwicklungsprozess im Baby- und Kleinkindalter verläuft rasant schnell. Die Kinder bilden neue Fähig- und Fertigkeiten scheinbar ganz nebenbei aus. Das Lernen erfolgt dabei als selbstbestimmter Prozess, der beinahe unstoppbar erscheint. Bewegungen eignen sich Kinder dabei zunächst in einer Grobform, später in der Fein- und Feinstform an.
Die ersten sieben Lebensjahre sind für die Bewegungsentwicklung essentiell. Zunächst lernen die Kinder ihren eigenen Körper, dann ihre Umwelt kennen. Sie beginnen sich aufzurichten, lernen sich zielgerichtet zu bewegen und nehmen mit allen Sinnen sich selbst und alles um sich herum wahr.
Sensomotorische Integration
Das Sinnessystem gehört zu den wichtigsten Bereichen der frühkindlichen Entwicklung. Durch die Aufnahme und Verarbeitung von Sinnesinformationen bilden sich im Gehirn wichtige Synapsen.
Jedes Kind durchläuft dabei verschiedene Schritte in derselben Reihenfolge. Die aufgenommenen Sinnesinformationen werden im Gehirn aufgenommen, gespeichert und sortiert und sorgen dann für eine Reaktion und eine Handlung. Diese sensomotorische Wahrnehmung bildet die Basis der frühkindlichen Entwicklung.
Unser Sinnessystem
Der Organisationsprozess, also das Einordnen von Empfindungen und Eindrücken im gesammten Nervensystem findet im Laufe der ersten sieben Lebensjahre statt.
Unser Sinnenssystem wird aus sechs verschiedenen Bereichen gebildet. Jedes Sinnesorgan hat eine bestimmte, wahrnehmende Aufgabe.
Auge = sehen (visuelle Wahrnehmung)
Ohr = hören (auditive Wahrnehmung)
Nase = riechen (olfaktorische Wahrnehmung)
Zunge = schmecken (gustatorische Wahrnehmung)
Haut = fühlen (taktile Wahrnehmung)
Rezeptoren in der Muskulatur, in Sehnen & Gelenken = Eigenwahrnehmung/ Tiefensensibilität (kinästhetische & vestibuläre Wahrnehmung)
Die aufgenommenen Informationen (Reiz) werden über Nervenbahnen ans Gehirn weiter geleitet. Dort erfolgt die Bewertung, Einordnung und Selektion der Information in verschiedenen Arealen.
Das kindliche Lernverhalten ist zunächst an Bewegung und Sinneswahrnehmung gekoppelt. So können sich notwendige Synapsen im Gehirn ausbilden. Anfänglich sind bei einem kleinen Säugling viele ungeordnete Bewegungen zu beobachten. Diese sind meist nicht zielgerichtet, unwillkürlich und unstrukturiert.
Reflex gesteuerte Anpassungsreaktionen und Stimulation des Nervensystems sorgen für erste Wahrnehmungserfahrungen. Die Wahrnehmung mittels Stimulation des Sinnessystems ist notwendig für die Gehirnentwicklung. Im Laufe des ersten Lebensjahres kann das Baby so ein Handlungsrepertoire aufbauen. Die Bewegungsabläufe werden immer konkreter, da der im Gehirn zugrunde liegende Handlungsplan über ein immer größer werdendes Netzwerk an Synapsen verfügt. In etwa um den ersten Geburtstag herum kann das Baby bereits einfache gezielte Bewegungen durchführen.
Meilensteine im ersten Lebensjahr
Innerhalb des ersten Lebensjahrs entwickeln sich die Babys in einem rasanten Tempo. Sie bauen Muskulatur auf und bilden ihre Körperhaltung aus. Es erfolgt dabei eine Aufrichtung gegen die Schwerkraft durch diverse Anpassungsprozesse im Gehirn. Sinnesinformationen treffen dort zusammen, werden verarbeitet und lösen eine Reaktion aus. Dabei kommt es zu einer "Programmierung" des kindlichen Gehirns. Diese beginnt in den oberen Körperbereichen und setzt sich immer weiter zu den unteren Arealen, den Füßen fort. Reflexe sorgen für die zielgerichteten Entwicklungsschritte.
Die Meilensteine in der Reflexintegration zeigen deutlich, wie wichtig ein ungestörter Aufrichtungsprozess ist.
Meilenstein 1: sicheres Heben des Kopfes in Bauchlage
Meilenstein 2: Kreuzen der Körpermitte in Rückenlage (und daraus resultierendes selbstständiges Drehen um die Körperlängsachse)
Meilenstein 3: Vierfüßlerstand (meist aus dem Robben & Kriechen und im Einklang mit eigenständigem Hinsetzen & Sitzen)
Meilenstein 4: Aufrichtung, Gehen & Stehen
Werfen wir einen genaueren Blick auf die Meilensteine:
Meilenstein 1: Bauchlage
Die Startposition ähnelt der fötalen Beugehaltung im Mutterleib. Diese entspricht dem tonischen Labyrinthreflex. Mit Hilfe des asymetrisch-tonischen Nackenreflexes kann der Säugling den Kopf zur Seite drehen und die Atemwege bleiben frei. Anfänglich ist der Saugreflex noch sehr aktiv. Dieser wird zum dritten Lebensmonat hin integriert.
Ab ungefähr der achten Lebenswoche beginnt das Baby symmetrisch zu Stützen und seinen Schwerpunkt aktiv zu verlagern.
Meilenstein 2: Rückenlage
In den ersten Lebenswochen liegt das Baby in einer "kriegerähnlichen"-Position. Dabei sind die Gliedmaßen auf der einen Körperseite gestreckt, der Blick schaut dem Arm hinterher und die übrige Seite ist gebeugt (s.Bild).
Diese Körperhaltung ermöglicht es dem Neugeborenen, seine Hände zu entdecken und die eigene Körpermitte zu erfahren. Anfänglich verhinder der ATNR das Kreuzen der Körpermitte. Mit dem Entdecken der Füße beginnt die Integration des ATNR und die Kreuzung der Körpermitte beginnt. Das gekreuzte Bein leitet anschließend die Drehung zur Seite und über die Körperlängsachse zur Bauchlage ein. Die Rückenlage bildet die natürliche Spielposition in den ersten Lebensmonaten. Wichtig für die optimale Entwicklung sind dabei nackte Füße und ausreichend Zeit, den eigenen Körper zu erforschen.
Meilenstein 3: Vierfüßlerstand
Bevor das Baby sich sicher im Vierfüßlerstand fühlt, muss es einiges an Muskulatur aufbauen und gleichzeitig Reflexe integrieren.
In Bauchlage bekommt es zunächst zunehmend mehr Kontrolle über seinen eigenen Körper gegenüber der Schwerkraft. Es befindet sich immer öfter in der "Fliegerposition", welche durch den Landau-Reflex ausgelöst wird. Er sorgt für den Aufbau des optimalen Muskeltonus im Nacken- und Rückenbereich.
Kann sich der Säugling bereits in den Vierfüßlerstand hinauf drücken, so beginnt er meist hi- und her zu schaukeln. Das Zusammenspiel der Körperviertel bei freier Kopfkontrolle beginnt. Das Kind erlernt in dieser Phase kreuz koordinative Bewegungen, die parallel mit der Gehirnentwicklung einhergehen.
Dieser Meilenstein der Kopfkontrolle ist unheimlich wichtig. Kinder, die nicht oder zu wenig gekrabbelt sind erreichen diesen meistens nicht.
Meilenstein 4: freies Stehen & Gehen
Sobald das Baby krabbeln kann, beginnt es sich gegen die Schwerkraft weiter aufzurichten. Es bildet das notwendige Gleichgewicht und die Balance aus, um der Schwerkraft entgegen zu wirken. Dazu ist eine komplexe Vernetzung im zentralen Nervensystem notwendig. Zum freien Laufen, ist es außerdem notwendig, dass die fußspezifischen Reflexe integriert werden. Ein Eingreifen in dieser Phase ist keineswegs empfehlenswert, wenn nicht sogar schädlich für die kindliche Entwicklung.
Die Gehirnentwicklung im Kontext der Menschheitsgeschichte
Bei der evolutionären Entwicklung der Lebewesen vom Urfisch zum Menschen wurden Gehirnareale "ausgebaut". Es entstand ein ressourcensparendes Prinzip der Anpassungsvorgänge. Die Ausdifferenzierung des menschlichen Gehirns umfasst beispielsweise komplexe, vorausschauende Denk- und Handelsprozesse oder die Nutzung von Werkzeugen.
Jeder Gehirnbereich erfüllt unterschiedliche Aufgaben. Kein Bereich arbeitet nur für sich selbst. Neuronen sind für die Prozesse im Gehirn verantwortlich. Sie verarbeiten und speichern die eintreffenden Reize und sind für die Weiterleitung verantwortlich. Sie bilden ein vielverzweigtes Netzwerk aus Synapsen. Gut zu wissen ist sicherlich, dass diese unser Leben lang neu gebildet werden. Wir lernen sozusagen nie aus.
Das Stammhirn ist der evolutionsbedingt älteste Bereich des Gehirns. Es ist für die lebensnotwendigen Funktionen wie Blutdruck und Atmung verantwortlich. Das Kleinhirn entwickelte sich in der nächsten Evolutionsstufe. Es ist zuständig für die Feinregulation von Bewegungen. Das Mittelhirn entwickelte sich im kommenden evolutionsbedingten Schritt als nächstes. Die Steuerung der Augenbewegungen und eine komplexe Verschaltung von Nervenbahnen sind die Folge. Dies entsprach der Stufe der Amphibien.
Das "Säugetierhirn" kann zusätzlich auf das Großhirn und das limbische System zurückgreifen. Die Steuerung der Gefühle und der Empfindungen machen den Unterschied in den Evolutionsstufen aus.
Was ist ein Reflex?
Ein Reflex ist eine unwillkürliche, nicht bewusste Reaktion auf einen Reiz. Das bedeutet, die resultierende Muskelreaktion kann nicht unterdrückt werden.
Frühkindliche Reflexe werden auch primitive oder angeborene Reflexe genannt. Es handelt sich um Bewegungsmuster, die während der Schwangerschaft oder im ersten Lebensjahr auftreten, eine Zeit lang aktiv sind und sich anschließend wieder zurückentwickeln und dann nicht mehr aktiv sein sollten. Auch hier handelt es sich um immer gleichbleibende und automatisierte Bewegungen, die das Überleben sichern und die Bewegungs- und Gehirnentwicklung maßgeblich beeinflussen. Nach ihrer Waltezeit spricht man von einer erfolgreichen Integration.
Jeder Reflex hat einen bestimmten Zeitraum (Waltezeit), in der er aktiv ist. Reflexe können unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Sie haben einen kurvenartigen Verlauf.
Die Hauptaufgabe der frühkindlichen Reflexe ist der Aufbau des Muskeltonus und der Körperhaltung durch die noronale und motorische Ausreifung. Dies stellt den Prozess der Neubildung und Verknüpfung von Nervenverbindungen (Synapsen) im Gehirn dar. Die sensomotorische Integration spielt eine große Rolle bei der Reiz aufnehme und Gehirnentwicklung. Durch frühkindliche Reflexe und sensomotorische Integration kommt es innerhalb der ersten Lebensjahre zur Ausbildung komplexer Bewgeungsmuster. Dabei lernt das Gehirn den Körper in verschiedenen Ebenen zu bewegen. Bei gelungener Bewegungsentwicklung kann es Unterscheiden in:
oben - unten
links - rechts
vorne - hinten
Reflexe im (Un-)Gleichgewicht
Der "perfekte" Zustand ist schwer zu erreichen. Es bezeichnet ein psychisches und physisches Gleichgewicht. Sind alle Reflexe innerhalb dieses Gleichgewichts integriert und nicht mehr aktiv, so können wir diesem optimalen Zustand sehr nahe kommen.
Herrscht hingegen ein Ungleichgewicht, so zeigen Kinder Probleme, die durch regelmäßiges Üben nicht besser werden.
Je nachdem welcher frühkindliche Reflex nicht außreichend integriert ist, zeigen sich unterschiedliche Problembereiche. Oft lassen sich Gleichgewichtsprobleme, Konzentrationsschwierigkeiten oder Probleme mit der Muskelspannung beobachten.
Persistierende frühkindliche Reflexe bedeuten grundsätzlich Stress für das betroffene Kind. Die Folgen sind geminderte Belastbarkeit, mangelndes Selbstvertrauen und körperliche Auswirkungen. Meist handelt es sich dabei um einen krankmachenden"Teufelskreis", den es mittels entsprechender therapeutischer Maßnahmen zu durchbrechen gilt.
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